Die Bühne des Konzertkellers im Wiener Café ist mir noch sehr präsent. Und die Stimme einer jungen Frau. Pointiert, einfühlsam und klar zeichnet sie die Poesie ihrer Musik. Beobachtungen aus dem Alltag. Momente. Wechselgesichtige Empfindungen. Es geht unter die Haut und zu Herzen. Wendi Gessner ist eine ganz besondere Künstlerin. Sie geht nicht nur auf, in dem, was sie tut. Sie vermag es, unterschiedliche Fäden unterschiedlicher Kunstformen miteinander zu verweben. Aus dem kleinsten Augenblick etwas Besonderes zu machen. Nun hat die vielseitige Liedermacherin mit ihrem neuen Album „Wollmilchfrau“ ihrem Künstlerinnenleben neue und starke Akzente verliehen. Darüber, über ihr Schaffen und den derzeitigen Stellenwert von Kunst und Kultur erzählt sie im KULTURTODATE-Interview.
Was hat es mit deinem neuen Album „Wollmilchfrau“ auf sich? Worum geht es? Was war der Anstoß dafür?
Gessner: „Eigentlich wollte ich nach meiner Karenz nicht weiter Musik veröffentlichen, sondern nur noch als Grafikerin, Musikvermittlerin und Theatermusikerin arbeiten – Erfolge in Form von monetärer und medialer Wertschätzung in diesen Bereichen waren stärker spürbar als bei meiner Musik. Seltsame Schamgefühle waren auch mit dabei, bei der Überlegung, nach der Karenz doch wieder auf digitale und reale Bühnen zu gehen. Ich bin diesem Gefühl hinterher geschlichen und konnte den Ursprung schließlich ertappen: Der Mangel an Vorbildern. So konnte sich in mir der leise Verdacht einnisten, als mittelalte Frau und insbesondere als Mutter nicht mehr dorthin zu gehören, nicht relevant oder ansehnlich genug zu sein. Ein Eintrag in meinem Notizbuch bringt das ambivalente Gefühl vor dem Schritt, doch wieder Musik zu veröffentlichen, auf den Punkt: „Ich erblühe und verblasse zugleich.“ Ja, noch nie hatte ich so viel zu sagen und zeitgleich Angst, zu verstummen. Ich hab mich aber dagegen entschieden, ganz wehrlos in die Unsichtbarkeit zu entgleiten, wie zu viele vor und nach mir. Allein schon, um mit diesem Album mir und allen anderen eierlegenden Wollmilchmenschen Mut und Lust zur Sicht- und Hörbarkeit zu machen.
Ein elektronisches, wuchtig-knarzend-verspieltes Klanggewebe bildet das Fundament für die österreichisch-deutschen Texte, die mit einer Stimme aus emotionaler Tiefe und der unverwundbaren Kraft einer maximal verletzlichen Frau und Mutter durch die Gegenwart getragen werden.“
Was zeichnet deine Musik/deinen Musikstil aus? Gibt es etwas Typisches? Etwas Wiederkehrendes? Ein Markenzeichen?
Was ich schon immer rückgemeldet bekommen hab, ist, dass meine Stimme ab dem ersten gesprochenen Wort oder dem ersten gesungen Ton sofort erkannt wird – ich denke, das ist etwas typisches, das meine Musik begleitet, obwohl sich der Stil aufgrund von Geschmacks und Lebensumständen immer wieder recht stark verändert hat und bestimmt auch zukünftig verändern wird.
Was meine Musik auch noch stark prägt ist, dass die Arbeit an den Texten immer im Vordergrund steht, also der Ausgangspunkt jedes Liedes der fertige Text ist. Der Rhythmus der Worte bestimmt den Puls der Musik, die Stimmung des Gesagten ergibt den Vibe und die Instrumentierung. Erst durch den Austausch mit anderen Musiker:innen habe ich bemerkt, dass es die allermeisten genau umgekehrt machen, weil es für mich immer der einzig logische Weg war. Somit kann, denke ich, von meiner Musik als konstantes Merkmal behauptet werden, dass die Texte der Dreh- und Angelpunkt sind.“
Du machst Text. Du machst Musik. Du machst Bild. Wie vereint und verbindet sich das alles in deiner Kunst? Das Interdisziplinäre, der Brückenschlag? Wie wichtig ist es für dich, das alles gemeinsam zu denken, zu fühlen, zusammenzubringen?
Gessner: „Fast mein ganzes Leben lang hab ich gedacht, ich muss mich entscheiden für eine Richtung, für ein Liebe. „Alles ein bissl, nix so richtig…“ war lange meine Standardantwort, wenn mich jemand gefragt hat, was ich eigentlich so mache. Knapp und etwas bitter, weil ich immer das Gefühl hatte, eine wahrheitsgemäße Antwort würde zu lange dauern, könnte mein Gegenüber langweilen, oder überfordern, oder noch schlimmer: prahlerisch wirken. Wenn ich doch begonnen hab, von meinem Tun zu erzählen, hat mir so ziemlich jede:r zu verstehen gegeben, dass ich früher oder später aufhören muss, überall „herumzunaschen“, „auf jeder Hochzeit tanzen zu wollen“ und statt dessen alles auf eine Karte setzen müsse, mich für etwas entscheiden und dann voll und mit ganzer Kraft dran bleiben müsse.“
“Es gibt Phasen, in denen die Musik meine allergrößte Liebe ist und alles andere Nebensächlich. Da sind aber auch Phasen, in denen ich ohne Theater nicht sein wollen würde. Und dann ist da noch meine Liebe zur bildenden Kunst – Grafik, Malerei, Illustration, Animation, mein ArtCycling-Projekt – ich hab mir bei jedem dieser Bereiche ernsthaft vorstellen können, es Hauptberuflich zu machen. Ah ja, dann war und ist da ja noch meine Liebe zur Pädagogik, zur Vermittlung, zum Weitergeben und Inspirieren – auch da waren, vor allem von außen, immer wieder Stimmen, die mir das als Hauptberuf ans Herz legen wollten. Und immer, wenn eine meiner Lieben etwas in den Hintergrund gerückt ist, hab ich nach einer gewissen Zeit ganz schlimme Sehnsucht nach ihr bekommen. So schlimme Sehnsucht, dass ich jedesmal, wenn ich ihr dann wieder begegnet bin, dachte: Ok, DAS muss sie also sein, die EINE große Liebe! Jetzt weiß ich endlich bescheid.“
„So ging das recht lang: zerrissen, unentschlossen, oft auch verzweifelt darüber. Was seit wenigen Jahren anders ist, ist meine Betrachtung: Ich lass mir meine vielen Lieben nicht länger als Konkurrentinnen einreden, sondern sehe sie als Team. Manchmal auch als sehr fordernde Großfamilie. Aber auch als eine Art Perpetuum Mobile, in dem sich die einzelnen Kugeln gegenseitig in Bewegung versetzen.“
„Als Grafikerin/Illustratorin hab ich mich im Laufe der Jahre unter anderem darauf spezialisiert, CD/LP-Artworks für andere Künstler*innen zu realisieren und auch für meine eigene Musik war dieser Teil der Veröffentlichung immer einer meiner Liebsten.“
Welche sind deine wichtigsten Inspirationsquellen?
Gessner: „Sorgen, Ängste, Nöte, Sehnsüchte – meine eigenen, aber auch die meiner Mitmenschen sind fast immer der Auslöser für mich, einen Text, eine Geschichte zu schreiben um mich schweren Themen spielerisch zu nähern, eine Form von Katalyse zu betreiben für alles, was sich nicht auf direktem Weg lösen oder aussprechen lässt.“
Welche (aktuellen) Projekte/Ideen treiben dich derzeit an?
Gessner: „Aktuell konzipiere und realisiere ich eine inhaltliche und gestalterische Komplett-Überarbeitung des 3.Stocks im Wiener Haus der Musik, mit dem Ziel, den Staub und die Ungreifbarkeit der sogenannten „Großen Meister“ der Wiener Klassik wegzufegen und zu zeigen, wie untrennbar alles, was wir heute leben, kennen und konsumieren mit dem was damals künstlerisch, historisch und politisch stattgefunden hat, verwoben ist. Diese Aufgabe darf gerade sehr viel Platz meiner kreativen Kapazitäten einnehmen, hat aber den unglaublich schönen Begleiteffekt, dass ich persönlich im Zuge dieser Auseinandersetzung einen Frieden mit klassischer Musik schließen kann, den ich als klavierlernendes Kind verloren hab. Und ich kann an dieser Stelle schon mal verraten, dass meine nächsten musikalischen Veröffentlichungen zwei Schubert Lieder sein werden – im elektronischen Stil der Wollmilchfrau.“

Welche sind, deiner Meinung nach, die größten Herausforderungen für Kunst und Kunstschaffende dieser Tage?
Gessner: „Mangelnde Wertschätzung: Die Menschen verlassen sich darauf, dass Musik und Kunst generell nahezu gratis und im Überfluss vorhanden ist und jederzeit und ohne nachhaltigen Umgang mit Selbstverständlichkeit konsumiert werden kann. So wie wir in Österreich, ohne den Wert dahinter zu schätzen, den Wasserhahn aufdrehen und Quellwasser konsumieren, damit sogar unser Klo spülen, so drehen wir alle Spotify auf und konsumieren den Überfluss, lassen uns bewusst und unbewusst berieseln. Dafür sind vor allem Platzhirsche wie Spotify verantwortlich, die einem Artist unter 1000 Streams mit frechster Dreistigkeit NICHTS auszahlen. Das muss man sich mal vorstellen, das ist als würde ich dem Handwerker nichts bezahlen, weil er keine volle Stunden gearbeitet hat.“
Wo hapert es, deiner Meinung nach, in der Gesellschaft?
Gessner: „An Liebe, Vertrauen und Zusammenhalt. Wir werden schon im Schulsystem über einen Kamm geschoren und müssen als Einzelkämpfer:innen bestehen. Wir leben in einem System, was Werte wie Pflege, Fürsorge, Erhalt und emotionale Greifbarkeit als Selbstverständlich wahrnimmt (Stichwort: Care Arbeit) oder, noch schlimmer, als Schwäche (Stichwort: Arbeitswelt). Was dabei über bleibt ist ein hartes, wenig fruchtbares Pflaster. Es bräuchte mmn. (Selbst-)Liebe, Akzeptanz und Bewusstsein für die Bedeutung von Zusammenhalt für eine nachhaltige Entwicklung einer Gesellschaft.“
Hast du besondere Wünsche/Vorsätze für das neue Jahr?
Gessner: „Ich nehme mir vor, noch genauer hinzuschauen um zu erkennen, was im Bereich meiner Möglichkeiten liegt und darin mein Bestes zu geben – aber zugleich auch zu erkennen, was NICHT im Bereich meiner Möglichkeit liegt und darin nicht unnötig Kraft zu verschwenden.“
Was du deinen Fans/den Menschen für das neue Jahr wünschen möchtest – oder was dir sonst noch wichtig wäre zu sagen.
Gessner: „Weibliche Qualitäten“ (die mmn. jedes Geschlecht hat und haben kann) befinden sich im Niemandsland: am ultra-schmalen Grad zwischen zu jung, um ernstgenommen zu werden und zu alt, um laut, stark und sichtbar sein zu dürfen. Zu selbstbestimmt und ambitioniert, um ein hingebungsvoller Elternteil sein zu können und zu emotional und fürsorglich, um sich karrieretechnisch unter männlichen Werten behaupten zu können.“
„Das sind Be-, und Abwertungen, Betrachtungen von außen, die innere Entfaltung und Wachstum verhindern. Wir sollten uns aber nicht länger in diesem kalten Abgrund bewegen und uns so von wichtigeren Dingen abhalten (lassen).“
„Ich wünsche mir und allen aus tiefstem Herzen, den Raum zu finden, für sich selbst zu tanzen, dabei den Blick nach innen zu richten und sich auf diese Weise selbst in die Augen zu schauen. Sich auf sich selbst einlassen, sich auf sich selbst verlassen und sich selbst wertfrei in unverstellter Form annehmen zu können, um sich selbst in wahrer Größe zu erkennen. Das macht, meiner Erfahrung nach, resilient gegen Bewertungen von außen.“
„Seien wir gut, liebevoll, geduldig und sanft zueinander und als erstes zu uns selbst. In Frieden lässt sich´s besser wachsen, als im Kampf – im Innen, wie im Außen.“
WICHTIGE INFO FÜR MUSIKFANS:
Das Album „Wollmilchfrau“ von Wendi Gessner gibt es auf Spotify, Bandcamp, Amazon music.
So lässt sich ihre künstlerische Arbeit ganz unkompliziert und direkt unterstützen.
Anfang 2025 wird es auch nicht einen Tonträger geben: Ein Büchlein mit Lyrics, Hintergrundgeschichten und Gedanken, Bildern korrelierender Artworks aus ihrem Atelier sowie QR-Codes, die pro Kapitel direkt zum jeweiligen Lied verlinken.
