Herbst-Zweig

Es war ein Frühoktobertag, da sich der Himmel nicht entscheiden konnte, mit dem Stricken der Wasserfäden aufzuhören. Der Nachtasphalt lag unter der Straßenlaterne wie frisch lackiert. Die Fassadenlichter glänzten wie von fern und ich folgte den wie bedächtig trippelnden Schritten, die dem Graben gewohntes Leben gaben. Ums Eck die Peterskirche. Erhaben lockte der Charme, schlank ihre geheimnisvolle Eleganz zwischen den heute noch mondänen Altstadtpalazzi.

 

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Foto: Klaus Oberrauner

 

So hineingepasst also, wie sich Stefan Zweig (1881-1942) in Wien nicht fühlen konnte. »Hier in Wien finde ich mich schwer zurecht. Ich passe nirgends ganz hinein und fühle mich auch nicht recht zuhause.« So öffnete sich der hier geborene Twen in einem Brief. Ein frühes Herbsteln. Im Mann mit dem großen Gespür für das Feine im Horizont. Es war noch etwas Zeit. Viertel vor. Ich öffnete die schwere Tür und verlor mich in andächtigen Gedanken, die so klein waren unter der kleinen barocken Pracht. Davor ein bescheidenes Plakat: In der Krypta wird aus den Sternstunden der Menschheit gelesen.

 

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Foto: Klaus Oberrauner

 

Sternstunden der Menschheit. Ende 1927 erschienen erstmals die historischen Miniaturen. Schon das Auseinandersetzen mit dem Geschehen eines Kontinents, dessen Schatz der Vielfalt Zweig so teuer war. Mit einem Denken, das nicht fassbar sein konnte. Zu schnell. Zu weit. Ein Visionär. Wie kann es auch besser gehen als mit dem Abtauchen und Aufzeigen. Die Pforte zur Krypta stand bereits weit offen. Hinab ins musische Himmelreich.

 

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Foto: Klaus Oberrauner

 

Unter der ganzen Peterskirche, deren Gründung man niemand Geringerem als Karl dem Großen nachsagt – einem der bedeutendsten inthronisierten Europadenkern, höhlt sich ein überbettendes Kreuzrippengewölbe. Vor bravgestellten einfachen Stühlen nichts weiter als ein ins Eck gebannter abgedeckter Flügel, ein schmaler hölzerner Biedermeiertisch auf umwundenen Füßen, ein halbvolles Glas Wasser im deutenden Licht eines Scheinwerfers. Eine Stimme erhub sich, tastete sich in den Raum und gemächlich wuchs man hinein. In ein Weltereignis, das mit dem Wörtchen Waterloo noch nachhallt, Begriff werden kann.  Hapé Schreiberhuber, oberösterreichischer Künstler sowie u.a. künstlerischer Leiter des Styraburg Festivals und der Kunstwochen in Steyr, eröffnete mit diesem Zweigschen Gemälde (Die Weltminute von Waterloo) der großen Schlacht um Napoleon Bonaparte, die einen nachhaltigen Auftakt für die Entwicklung und Ordnung im Europa des langen 19. Jahrhunderts lieferte und zugleich das Streben eines sich unbesiegbar fühlenden Despoten mit diesem Schlag zunichte macht. Kaum anschaulicher konnte Zweig den Wink des Schicksals eines großen Strategen zeichnen, der an der Pflichttreue und unabrückbaren Loyalität eines Gefolgsmanns scheiterte. Der Napoleon, der – am Rande gesagt – einen jungen Komponisten in Wien anfänglich so entflammte, dass er ihm kurzfristig seine Eroica widmete, ehe die Tyrannei diese fast automatisch wieder tilgte. Als die Schlacht geschlagen, die Totenstille und die entwaffnende Erschütterung den hörsamen Marschall Emmanuel de Grouchy (1766-1847) vor die redlosen Trümmern seiner Überzeugungen stellte, durchdrang von oben dumpfe Orgelmusik.

 

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Rita Hatzmann-Luksch liest „Der versiegelte Zug“ aus den Sternstunden der Menschheit von Stefan Zweig in der Krypta der Kirche St. Peter in Wien | Foto: Klaus Oberrauner

 

Rita Hatzmann-Luksch, vielseitige Schauspielerin mit ausgesprochen sensiblem Gespür für feine Stränge textdramatischer Gebilde, entblätterte mit Der versiegelte Zug die Ungeduld des in einem schweizerischen Flickschusterhaus untergetauchten Lenin. Als ihm das Gewaltige zu Ohren gekommen, das sich in Russland umwälzte – der mächtige Zar sei gestürzt, von einer Duma sei die Rede – konnte ihn nichts mehr halten und er musste versuchen aus einem Umfeld von Spionen, Verrätern und Agenten sich herauszuschälen für ein rasches Zurück in seine Heimat. Um die Revolution zu erleben, zu sehen, zu machen. Der Zug, in dem er verborgen vorankam, eilte wie ein Geschoss, wie es Zweig nannte, nach Russland. Ein Projektil, das vollends einschlug, als sich Lenin – ehemals in ärmlichen vier Wänden versteckt und gewählt stumm – auf einen heimatlichen Panzerwagen gehoben und wohlumjubelt wiederfand.

 

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Foto: Klaus Oberrauner

 

Die Faszination, wie Stefan Zweig die Miniaturen großer historischer Ereignisse zu kreieren wusste, trug mich durch die benetzte Kärntnerstraße zurück. Der Himmel hatte sich entschlossen, mit dem Regnen aufzuhören. Ein Blick auf den Stephansdom wirkte wie ein Ausrufezeichen dessen, wovon man aufgeladen: Was wir der Geschichte zu verdanken, was wir durch sie erlitten haben. Dass ein Sternenblick reicht, um die Dramen zu schaffen. Und ich wusste wieder, warum mich Zweig nicht loslässt. In diesem Herbst.

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