23 Versuche über die „Orkaniden Sturmgedichte“ von Julia Kulewatz

23 Versuche über die „Orkaniden Sturmgedichte“ von Julia Kulewatz | Eine Gastrezension von Edgar Bangert, der sich in die facettenreiche Lyrik vertieft hat. | Erschienen bei kul-ja! publishing.

Illustrationen von Jantien Sturm

1. Versuch

Solang nur wenige dieses Buch gelesen haben, wird die Erde eine poetische Scheibe bleiben.

2. Versuch

Wer auch immer dieses Gebet erhört: Änder´ das, bitte!

3. Versuch

Oft war da ein poetisches Siechen und Darben. Gewiss, es gibt auch andere Liebende, Schreibende. Warum will ich in genau diesem Augenblick rein gar nichts davon wissen? Verzeiht mir, Ihr wundersamen Dichterinnen und Dichter. Es steht mir einfach nicht zu, Medaillen zu verteilen. Ich schätze Euch alle.
Nein, das stimmt so nicht! Ich schätze nur die, die das Segel hissen. Mehr will ich dazu auch gar nicht mehr sagen.

4. Versuch

„Erstes Erblühen“. Dieses Gedicht macht mich ohnmächtig. Und es haucht mir zu, wie falsch ich lebe. Und liebe. Ich würde mir niemals anmaßen, zu behaupten, dass dies die Absicht der Autorin war. Mein Auge sieht Dich weltentrückt sitzen unter einem Baum mit Stift und Papier. Dieser kann doch nur im Garten Eden stehen. Welche Pflanzen gibt es dort? Tiere? Fabelwesen? 
Weißt Du, was mich unsicher macht? 
Es ist diese Unverfälschtheit! 
Wann habe ich jemals ein Liebesgedicht gelesen von einer solchen Reinheit und Anmut? Wann habe ich jemals erleben dürfen, dass sich eine Autorin derart wahrhaftig verschenkt?

5. Versuch

„Käferkind“. Abermals bin ich wehrlos und völlig überfordert. Das gestehe ich Dir an dieser Stelle unumwunden ein. Ich kann Dir nichts vormachen. Selbst der Versuch würde scheitern. Ja, auch ich musste trauern. Es gelang niemals würdevoll. Dafür möchte ich Dich um Verzeihung bitten. 
Klage und Schmerz, bei Dir wird´s Musik.
„Ich will dich unter Gras begraben/ Und auf jeden deiner Finger eine sterbende Fledermaus setzen.“ 
Ein Sakrileg wäre es, an dieser Stelle weitere Worte zu verschwenden. Ein Sakrileg. 

6. Versuch

„Dichterin,/ kannst du mir was zu Schreiben geben?-/ Eine Scherbe, das genügt.“
Jesus soll einmal gesagt haben, dass er das Schwert gebracht habe. Oft und intensiv wurde über diese Bibelstelle gestritten. Die Mystiker verstanden sie, die Patriarchen missbrauchten sie. Du und Jesus: Ihr kennt euch doch, oder?

7. Versuch

Ich werd´ Ihr nicht gerecht!
Ich werd´ Ihr nicht gerecht!
Ich werd´ Ihr nicht gerecht!
Ich werd´ Ihr nicht gerecht!
RUHE!

8. Versuch

Liebe Else Lasker-Schüler,
ich würde Dir gern jemand vorstellen. Das könnte interessant für Dich werden…

9. Versuch

„Jemand“. Mit nur einem einzigen Gedicht die Erziehung meiner Eltern zerstört. Und gemeine Illusionen enttarnt. Ich habe schon lang´ gespürt, dass da was nicht stimmt. 

10. Versuch

Noch einmal „Jemand“. Sprich, Dichterin, sprich!
„Niemand heilt Erinnertes./ Ich halte sorglos Wunden frisch,/ damit wir nicht vernarben.“ 
Das ist vollkommen in seiner Ehrlichkeit, Kompromisslosigkeit, Weisheitsliebe und Tiefe. 

11. Versuch

Warum Deine Gedichte mehr als nur schön sind? 
Weil sie mich läutern!
Bitte sag´ ihnen das!

12. Versuch

„Dieser Spalt wird Narbe sein.“ Damit endet „Aufgetrennt“. Was für ein Abgesang! Die Größe dieser Verse bekundet sich darin, dass sie in selten erlebter Schonungslosigkeit die Erotik sezieren. 
„Samen schläft in meiner Körpermitte.“ 
Fürwahr, das ist schonungslos. Schonungslos, aber nicht verbittert. Und schon wieder zeigt sich die Stärke der Dichterin darin, dass die Kraft ihrer Liebe jeden Schmerz überwindet. 

13. Versuch

In Deiner Poesie kann ich sterben. In Deiner Poesie kann ich ruhen. Das nächste Mal, wenn ich große Sorge habe, rufe ich Dich an. Verbunden mit der eindringlichen Bitte an Dich, am Ende der Leitung radikal zu schweigen. Und mir stattdessen Verse zu senden.

14. Versuch

Jantien Sturm: Schon der Name ist Kunst. Ihre Illustration Deiner Worte: Herrlich verschwenderisch! Gemeinsam seid Ihr ein Weihespiel. 

15. Versuch

Als ich zum ersten Mal vom Titel Deines Buches hörte, da zuckte ich sofort zusammen. Das wollte ich Dir gar nicht eingestehen, und zwar, um mir keine Blöße zu geben (Männer sind zu Stolz und Unsinn fähig; Du kennst sie besser, als ich!). 
„Orkaniden Sturmgedichte“, das ging mir sofort in die Blutbahn über. Der Körper reagiert schneller, als der Geist. Ich wusste rein gar nichts von Dir. Ich weiß auch jetzt noch sehr wenig. 
Mittlerweile habe ich mich etwas gefasst. Das Blut fließt nun ruhiger durch die Venen und mein Kopf ist beinah´ imstande, klare Gedanken zu fassen. 
„Orkaniden“. Ich schmeckte dieses Wort. Frag´ bitte nicht, warum, aber urplötzlich wusste ich, dass das zu mir gehört.

16. Versuch

Neologismen in der Lyrik gefallen mir selten; Julia gelingen sie mühelos. 
„Laub lose du tanzend für immer zerstreust,“
lese ich da. Und später:
„Trinkst weinend Wolkenwasser.“
Wo andere dazu neigen, Rettungsbotschaften unter das Volk zu streuen oder entsetzlich damit nerven, die Natur zu verkitschen, geschieht hier metaphysische Durchdringung:
„Rührst mein Mensch Seyn/ Nicht genug.“
Dann:
„Umkreist jähzornig jauchzend/ Sturmschlosses Zinnen,/ Wütest, Windkind,/ An mir/ Und meinen schwindelnden Sinnen,/ Atme Angst.“

17. Versuch

Wir können uns von Mythen und Legenden verzaubern, berauschen oder etwas lehren lassen: Julia lebt in ihnen. Darum ist ihre Auseinandersetzung mit unseren globalen Ahnen und Ur-Ahnen existentiell; – so sehr, dass man glauben könnte, sie sei gemeinsam mit Sappho einem Bad entstiegen, um kurze Zeit später dann einer Einladung von Platon zum Dialog zu folgen. Ihre Poesie, die uns entgegen schwebt, die uns leibhaftig durchwest, setzt das Gefühl für Zeit außer Kraft. Das habe ich letztmalig beim Betrachten eines Filmes von Tarkowski erlebt. 

18. Versuch

Erotik, in unserer hedonistsch-neoliberalen Welt ist sie längst schon zur Ware verkommen. Julia gibt ihr das Heilige zurück. Bei weitem nicht die einzige, aber eine elementare Leistung dieses Buches. Ich lese ihre Verse, staune, lege sie zur Seite und denke: Wie konnte ich jemals Trivialität aushalten? 

19. Versuch

Alles, was die Dichterin schreibt, ist mir vertraut. Alles, was die Dichterin schreibt, ist zugleich für mich neu. Das dualistische Prinzip wird somit aufgelöst, mein dialektisches Fassungsvermögen völlig gesprengt. 

20. Versuch

Es ist eine Freude, als Leser zu erfahren, welche Ehrfurcht die Übersetzerin vor diesem Werk hat. Ehrfurcht, dieser Begriff ist fast ausgestorben. Aus dem Nachwort geht hervor, wie der Prozess der Übersetzung ins Englische Bianca Katharina Mohr herausgefordert hat. Diese hoch filigranen Gedichte zu übersetzen, egal, in welche Sprache; – ist das überhaupt möglich? frage ich mich. Wahrscheinlich erfordert dies nicht nur Könnerschaft, sondern auch Wagemut. Und ich werde Zeuge, wie die Wortgemälde sanft hinübertanzen ins scharlachrote Reich von William Shakespeare. 

21. Versuch

Was war zuerst da, Gedicht oder Illustration? Das Gedicht, selbstverständlich. Jedoch: Vielleicht hat es eine Verabredung zwischen der Dichterin und der Malerin in der 4. Dimension gegeben, jenseits von Raum und Zeit. Das ist nicht auszuschließen. Jantien Sturms Gemälde hauchen sich ins geheiligte Wort. Ins geheiligte Wort, das genau so zerbrechlich, sinnlich und wild sein kann.

22. Versuch

Wenn ich jetzt einen Versuch über das Gedicht „Demuth“ wagen soll, kommt mir diese Vorhabe abermals vor wie ein Sakrileg. 
„Und ich/ sehne mich. Ja, ich sehne mich so, dass es mich zerreißen, dich zer-/ bersten muss an den Wellen der Zeit, die schaukelnd deine Perlen/ schluckt.“
Was geschieht hier? Welche Kraft tobt sich da aus? Zuweilen scheint es ratsam zu sein, diese Satzkunst durch die Membran der Zeit schlüpfen zu lassen. Oder einfach nur zu warten. Warten auf Sprache. Das sie uns findet. Wurde die Dichterin von der Sprache gefunden? Oder die Sprache von ihr? Hat sich ihre Sinnlichkeit im Sonnensystem verirrt? Nein, das nicht! Niemals. Diese Dichterin kann sich nicht verirren. Ich muss mich zurück halten.

23. und letzter Versuch

Dieses Buch besitzt die Macht der Transformation. Gewiss, das ist ein großes Wort. Gemeinhin meide ich große Worte, weil sie dazu führen können, sich im Olympischen zu verirren. Und genau das will ich nicht. Also bleibt mir wohl zum Schluss nichts Anderes übrig, als den zum Scheitern verurteilten Versuch zu unternehmen, meine Fassungslosigkeit in Worte zu kleiden. Scheitern, auch ein Wort, das ich nicht mag, auch eine viel zu große Geste. Wir, die romantischen Deutschen, wir haben uns beinah´ inflationär im Geist unserer Romantik geaalt. 
„Ich muss sprechen. Ich, der ich nichts zu sagen habe, muss sprechen“, lässt Samuel Beckett seinen Namenlosen sagen. Aber wie? Und was? Und warum? 
Im Grunde genommen gebietet es der Anstand, nichts Anderes zu tun, als den Worten dieser grandiosen Dichterin zu lauschen. Vielleicht ist es ja auch eine sinnvolle Aufgabe, in einer völlig reizüberfluteten Welt, in welcher so viel geredet wird wie noch nie seit Anbeginn der Menschheit, aber die Worte zunehmend an Kraft verlieren, es gelegentlich wie Platon zu machen. Ein Schüler soll beobachtet haben, wie der Meister ans Meer ging. Er betrachtete die Wellen und schwieg mit ihnen, geschlagene zwei Tage und zwei Nächte lang. Diese Vorgehensweise würde sich auch im Umgang mit dem Werk von Julia Kulewatz empfehlen. Also nehme ich die „Orkaniden“ zur Hand und pack´ meine Tasche. Ich kann unmöglich wissen, wohin die Reise geht. Und vielleicht, irgendwo in der Nähe einer entlegenen Landstraße, erblicke ich die „Tochter der fahrenden Leute mit dem Kopf in den Sternen und dem Herzen in der Erde“ unter einem einsamen Baum. Ich werde nicht auf sie zu gehen und sie auch nicht begrüßen. Weil sie nicht gestört werden darf. In ihrer Inbrunst. Damit weiterhin Werke entstehen können, die die Welt nicht vergessen wird. Und die „Orkaniden“ werde ich niemals vergessen. Nein, niemals!

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